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Die Geschichte der Liebe


Die moderne Welt hetzt von Minute zu Minute. An ihnen zwei vorbei. Wie in einer Blase aus einer vergangenen Zeit sitzen Werner und Silvie Frey auf dem Bänkli in der Migros. In ihre Blase dringt nichts. Nicht die hektische Zeit. Nicht die Lautsprecherdurchsage dass irgendetwas aus irgendeinem Grund noch billiger ist. Nicht schreiende Kinder, streitende Paare oder der Lärm der Welt. Nichts. In der Blase von Werner und Silvie herrscht nur Liebe. Ihre Liebe.

Ein abgelegenes Dorf in den Bergen des alten Graubündens. Frühlingsferien 1931. Die kleine, vierjährige Silvie erwacht endlich aus ihrer Einsamkeit und Langeweile. Der gleichaltrige Wernerli ist zu Besuch. Die beiden spielen auf frisch duftenden Frühlingswiesen. Jagen Schmetterlinge. Sammeln Beeren. Streiten, lachen, rennen, klettern. Und irgendwann fragt Wernerli seine bezaubernde kleine Freundin: „Willst du mich heiraten?“

Sie geben sich zärtlich die Hände. Silvie lacht wie das junge Mädchen auf der Frühlingswiese und himmelt ihren Wernerli immer noch an. Werner beobachtet mit seinem stechenden Blick die Umwelt und ihre Verrücktheit. „Ich will nichts mehr davon wissen“ wird er später sagen. Später, beim Apéro. Das Bänkli in der Migros ist ein Ritual. Für einen kurzen Moment sitzt die wahre Liebe mitten unter uns. In selbst genähten Kleidern, welche die Mode einer vergangenen Zeit verraten. Und niemand bemerkt es. Ein Lächeln hier. Ungläubige Blicke da. Sanft erheben sie sich. Helfen sich gegenseitig auf die Beine, stützen und streicheln sich immer wieder zärtlich. Fürs Einkaufen vermischen sie sich kurz mit der normalen Welt.

„Ja“ hat Silvie gesagt. Und gestrahlt wie eine kleine glückliche Sonne strahlt. Klar wollte sie den Wernerli heiraten. Den frechen, spannenden Bub welcher sie aus ihrer Einsamkeit gerissen hat. In diesem Moment haben sich das Glück und die Liebe manifestiert. Und natürlich wollte der Wernerli dieses Glück gleich festhalten. Also wurde geheiratet, unter der Frühlingssonne im fernen Graubünden, mit Bergblumen, im weissen Kleidchen.

86 Jahre später ist von dieser Liebe noch nichts erloschen. „Er schreibt mir täglich Liebesgedichte“ flüstert Silvie verlegen. Mit einem scheuen Lächeln und erröteten Backen „und liest sie mir immer vor.“ Sie greift seine beschützenden Hände und folgt ihm durch die Einkaufsregale der modernen Welt. Eine Welt, welche die beiden nicht mehr interessiert. „Wir haben uns. Und wir haben täglich eine Aufgabe. Malen. Schreiben. Das reicht doch, oder?“ Silvie nickt zustimmend.

Sie verlieren sich nach dem kindlichen Abenteuer nie mehr aus den Augen. Werner und Silvie machen sich eine gemeinsame Welt. Eine Welt, wie sie ihnen gefällt. Zusammen entdecken sie die Musik, die Kunst, die Malerei. Zusammen spielen sie unzählige Konzerte. Stellen ihre Bilder aus. Zusammen errichten sie eine Welt aus Liebe. Eine unerschöpfliche Welt. Und eine Liebe die hält. „Die schwierigste Vorstellung ist, wenn jemand von uns beiden sterben würde und der andere noch alleine hier wäre“ erzählt Werner beim Apéro. Und nimmt einen kräftigen Schluck seines alltäglichen Panachés. Die nachdenkliche Silvie stimmt ihm zu, mit einem leisen und liebevollen „das wäre schrecklich“. Man spürt, wie schrecklich es wäre. Sie wollen nicht mehr getrennt werden.

Der Feierabendverkehr staut sich an der Terrasse vorbei. Genervte Leute und Lichter, hupender Lärm. Mitten drin Werner und Silvie, der Zeit entflohen. „Noch einmal Jung sein wäre toll“ sind sich beide einig „aber mit der Erfahrung welche wir heute haben“. Sie lachen sich zufrieden an. Dann erzählt Werner einen Witz über den Tod, den man wegsperrt damit dieser niemanden mehr holen kann. „Aber irgendwann im Alter wird man müde, man mag nicht mehr, versteht auch die Welt nicht mehr.“ Und so holen sie im Witz den Tod wieder zurück, um schlussendlich doch von dieser verrückten Welt gehen zu können. „Ja, wir verstehen wohl einfach nicht mehr alles. Die Welt und die Leute. Alles scheint mir oberflächlich und flach“ meint er nachdenklich. Und nimmt einen letzten kräftigen Schluck.

Es herrscht eine seltene Stille in ihrer Wohnung. Tausende Fundstücke und wunderschöner Schmuck aus aller Welt liegen rum. Werners Bilder verzieren die Wände, liegen verstreut auf dem Boden. Eine Wohnung wie ein Museum. Silvie setzt sich erschöpft hin, Werner streicht ihr zärtlich übers Haar. „Dies ist die junge, wunderschöne Silvie“ ruft er plötzlich und holt ein Bild hervor. Stolz stemmt er es in die Höhe und lacht. Es zeigt eine junge hübsche Dame mit Hut. „Ich habe es gemalt. Ich habe Silvie oft gemalt. Ist sie nicht schön?“

Silvie schüttelt den Kopf verlegen. Lächelt mich an. Im abendlichen Licht welches nun in die Wohnung strömt erscheint ihre Silhouette wie ein Gedicht aus der Vergangenheit. Sie atmet tief durch. „Wir hatten Glück“ sagt sie zum Abschied. Und schaut fragend zu ihrem Werner rüber. „Ja, wir hatten Glück“ bestätigt er sie leise. Sie schauen sich tief in die Augen.

Als letztes verspricht Werner, mir eines seiner vielen Gedichte zu schenken, beim nächsten Wiedersehen. Es wird über die Liebe sein hoffentlich. Und über die Kunst, wie man diese Liebe so lange leben kann.

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